Schon sieben Monate dauert nun der russische Angriffskrieg
gegen die Ukraine. Die Auswirkungen sind weltweit spürbar. Auch Bürger*innen in
Berlin und Pankow sind in Sorge. Kein Wunder also, dass der Veranstaltungsraum
bei Paula Panke am Abend des 6. Oktober 2022 überquillt. Doch ist die Stimmung
an diesem Abend nicht von Angst oder Wut geprägt, sondern von Solidarität,
Vertrauen und Hoffnung. Den zentralen Beitrag dazu leisten Vika und Sascha aus
Russland, die in Deutschland leben und sich gegen den Krieg und für Geflüchtete
engagieren. Eingeladen wurden sie von unseren Kooperationspartnerinnen von OWEN
e.V., die den Abend organisiert haben – inklusive der Dolmetscherin Rumiya,
die zwei Stunden lang perfekt russisch-deutsch und umgekehrt übersetzt hat. Eine
Meisterleistung!
Informationen und Vernetzung sind aktuell am wichtigsten
„Das ist es, was ich will: informieren!“, sagt Vika. Sie ist aktiv in der Hilfe für Geflüchtete, versucht Hilfeanfragen zu koordinieren und gibt Informationen zu Aktionen gegen den Krieg in sämtliche Kanäle weiter, auf die sie zugreifen kann. Vor allem sind das Messenger-Dienste bei denen bis zu 40.000 Abonnent*innen erreicht werden können. Die Mobilisierung auf den Straßen sei dabei die wichtigste und wird beispielsweise über Telegram Gruppen organisiert und koordiniert.
Zu den aktuellen Aufgaben gehört es, einen sicheren Raum und eine Infrastruktur für Aktivist*innen zu schaffen, ergänzt Sascha. „Wir organisieren nicht nur Protestaktionen, sondern leisten auch psychologische Hilfe für Mütter von Soldaten und verfassen Merkblätter. Es gibt auch eine eigene Zeitung, die „Komsomolskaja Prawda“, erzählt sie. Außerdem sei es wichtig, die Ukrainer*innen in den Aufnahmelagern in Russland zu versorgen. Jedoch treibt die Sorge um die eigene Sicherheit die Menschen an, freiwillig das Land wieder zu verlassen – Unterstützung erhalten sie dabei oft von Freiwilligen.
Seit der Mobilmachung in Russland ist alles anders
Vika lebt schon vielen Jahre im Ausland und immer, wenn sie zu Hause kam, hat sie sich über die politische Initiativlosigkeit der Menschen gewundert. Ihre Freunde fragte sie dazu und bekam zur Antwort: Du weißt ja, wo wir leben. Vika deutet das Apolitische so: „Die Menschen haben Angst und halten sich an dem fest, was sie sich jahrelang mühevoll erarbeitet haben: ihre Wohnungen, ihre Autos, ihr Leben. Sie versuchen die Situation auszusitzen, um zu überleben. Seit der Mobilmachung ist das anders. Denn jede Familie ist betroffen.“
Sascha stimmt ihr zu und ergänzt: „Die Hoffnung der Menschen, durch eine apolitische Haltung verschont zu werden, hat sich nicht erfüllt. Mit der Mobilmachung hat sich das gezeigt und die Haltung der Menschen ändert sich gerade. Die Verfolgung von Feminist*innen ist in der Kriegssituation unverändert geblieben.“
Beide Frauen berichten, und sie lebten beide in russischen Großstädten, dass viele Russ*innen sich ein Leben außerhalb Russlands nicht vorstellen können: weil sie keine Fremdsprachen sprechen und die wenigsten im Ausland waren. Bis vor wenigen Jahren hatten nur ca. 5 % überhaupt einen Reisepass. Das ändere sich gerade – auch wegen der Mobilmachung.
Vika sagt, wichtig sei hier die Aufklärung Betroffener. Die wenigsten wissen, dass die Strafe für eine Verweigerung der Mobilmachung nur eine Ordnungsstrafe ist. Sie empfehlen denen, die das Land nicht verlassen können, eine Interaktion mit dem Militär zu vermeiden und sich zu verstecken. Im Moment sei es schwierig ein Visum zu bekommen. Daher versuchen viele in Länder wie Georgien, Serbien oder Kasachstan einzureisen, wo sie kein Visum benötigen. „Die Situation an den Grenzen ist eine humanitäre Katastrophe“, berichtet Vika. „Die Menschen müssen dort tagelang warten, ohne versorgt zu werden.“
Sascha sagt, dass die Mobilmachung die Infrastruktur in den Städten stark belaste: Kitas und Sportzentren werden zu Mobilmachungszentren. Problematisch ist, dass sich dort jetzt tausende Männer in einer Stresssituation aufhalten, die nie gelernt haben, ihre Gefühle und Wünsche zu formulieren.
Die Situation für viele Eingezogene, vor allem vom Land ist, dass sie ihre Ausstattung nicht von der Armee erhalten, sondern sie selbst finanzieren müssen. „Es gibt dafür inzwischen spezielle Kredite“, erzählt Vika.
Es ist spannend, was wir als Leben bezeichnen
Vika und Sascha, aber auch Besucherinnen aus dem Publikum berichten von der schwierigen Situation in Russland. „Russland ist sehr arm.“, sagt Sascha. „Das erlebe ich jeden Tag und es tut weh zu verstehen, wie arm wir eigentlich sind. In Moskau habe ich das nicht gemerkt, sondern erst im Vergleich mit dem Leben in Berlin. Es ist spannend, was wir als Leben bezeichnen. Die Menschen in Russland haben keine Vorstellung und auch keine Möglichkeit sich ein Bild vom Ausland zu machen. Englischunterricht war Luxus in der Schule und meist nur für Kinder möglich, deren Eltern sich Privatunterricht leisten konnten.“
Die 1990er Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, waren für viele Russ*innen ein traumatisierendes Jahrzehnt. Durch den finanziellen Kollaps sind viele in Armut aufgewachsen. „Es war zum Beispiel für viele normal, monatelang keine Äpfel zu bekommen“, erzählt ein Frau aus dem Publikum. Es gab eine hohe Arbeitslosigkeit und keine Unterstützung vom Staat. Putin hat das für sich ausgespielt. Mit steigenden Erdölpreisen hatten die Menschen wieder mehr Geld.
Sascha ist sich sicher: „Es gibt einen Zusammenhang zwischen den materiellen Umständen und der politischen Aktivität der Menschen.“
Berlin in 3 Worten: Akzeptanz, Unterstützung, Vielfalt
Sascha und Vika sagen beide: Wir haben Glück gehabt in unserem Leben. Sie hatten die Gelegenheit, andere Sprachen zu lernen und im Ausland zu leben. Vika erzählt, dass ein Freund sie vor Kurzem gefragt hat, wie sie Berlin in drei Worten beschreiben würde. Sie hat geantwortet: Akzeptanz, Unterstützung, Vielfalt. „Egal, wer du bist: du kannst sein, wer du willst. Das konnte ich mir in Russland nicht vorstellen.“
Sascha erzählt, wie sie das Leben in Deutschland empfindet. „Das Vertrauen ist super. Man kann sogar alles mit der Post schicken!“ Sie fühlt sich zurückversetzt in eine Zeit ihrer Kindheit, als man noch den Schlüssel unter der Fußmatte liegen ließ. „Sicher zu sein, ermöglicht es, großzügig zu sein.“ Das erlebt sie in ihrer Arbeit als Aktivistin. „Ich war erstaunt, wie leicht es war, Leute zu finden, die geflüchtete Ukrainer*innen aufnehmen wollten.“
Aber natürlich erleben Russen in Deutschland und Berlin auch Fremdenfeindlichkeit. Weder Vika noch Sascha würden das jedoch als Russophobie bezeichnen. Vika erlebt die Deutschen in aller Regel als freundlich und interessiert, ohne übergriffig zu sein. „Ich denke, die Menschen trennen klar Staat und Personen.“ Nastia, eine Frau aus dem Publikum, erzählt dagegen, dass sie sich nicht traue, in Deutschland positiv über ihr Heimatland Russland zu sprechen. „Die Menschen verstehen das nicht. Dabei sehne ich mich nach der Kultur, den Menschen, der Sprache, nach meiner Oma!“ Sie erzählt, dass sie schon zweimal, seit sie im Exil in Berlin ist, ihre Oma besucht hat. „Vor jedem Grenzübertritt habe ich meine Mails und den gesamten Chatverlauf gelöscht. Das ist die Situation aktuell. Und trotzdem möchte ich nicht Deutsch lernen, weil ich wieder nach Hause will.“
Sascha warnt vor der russischen Propaganda bei Protesten in Berlin. Die Russophobie sei vom Kreml gesteuert. „Sie sind schlau, weltweit sehr gut vernetzt und gut finanziert.“ Viele sichtbare Proteste von Russen seien beim genaueren Hinsehen als inszeniert zu erkennen.
Eine geflüchtete Frau aus der Ukraine, aus dem Publikum, erzählt von ihrer Sorge vor einem anhaltenden Trauma: Der Hass gegen Russen in ihrem Land manifestiere sich. „Ich weiß nicht, wie lange wir unsere traumatisierte Gesellschaft behandeln müssen!“
Und trotz dieser bewegenden Eindrücke, ist es ein sehr hoffnungsvoller und verbindender Abend. Das nächste Gespräch ist für den 20. Januar 2023 geplant. Das größte Kompliment, das wir an dem Abend erhalten, ist, dass Sascha und Vika sich bei Paula Panke sehr willkommen und geborgen gefühlt haben. Wie zu Hause!