Wenn wir an die EU (Europäische Union) denken, kommt den wenigsten von uns als Erstes das Thema Gleichstellung in den Sinn. Entscheidungen, die auf dieser Ebene getroffen werden, wirken oft weit entfernt. Nur wenige wissen, wie sehr die EU unser alltägliches Leben beeinflusst – und in der Vergangenheit bereits beeinflusst hat. Laut Dr. Berit Ebert ist genau dieses mangelnde Bewusstsein ein Problem.
Berit unterrichtet am Bard College in Berlin-Pankow. Sie hat sich auf Europarecht spezialisiert und darin den Schwerpunkt auf Gleichstellungsthemen gelegt. Im Rahmen unserer Bildungsreihe Feministisch widerstehen haben wir mit ihr über europäische Entwicklungen im Bereich Gleichstellung, über den politischen Backlash und über neue Chancen gesprochen.
Gleichstellung in den europäischen Anfängen
Gleichstellungsfragen haben die EU schon früh beschäftigt. Bereits in den Römischen Verträgen von 1957 findet sich das Prinzip „Gleiches Entgelt für gleiche Arbeit“. Ursprünglich ging es dabei jedoch nicht primär um Gleichstellung der Geschlechter, sondern um fairen Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten. Während Frankreich die Lohngleichheit bereits in seiner Verfassung verankert hatte, war diese Idee in Ländern wie Deutschland noch unbekannt, was Deutschland einen Wettbewerbsvorteil verschaffte. Um fairen Wettbewerb sicherzustellen, setzte Frankreich die Aufnahme dieses Prinzips durch.
Good to know
- EU-Recht steht über dem nationalen Recht.
- Die EU-Kommission kontrolliert, ob Mitgliedsstaaten die EU-Rechte einhalten bzw. verletzen.
- Jede*r kann sich im Fall einer Klage auf EU-Recht berufen. Auch die EU-Kommission kann bei Rechtsverletzungen klagen.
- Man kann sich an jedes Gericht wenden. Jedes Gericht kann ein Urteil beim Europäischen Gerichtshof beauftragen.
Der Fall Defrenne als Meilenstein in der Gleichbehandlung der Geschlechter
Im Laufe der Zeit entwickelte sich die EU weiter: Aus einem Wirtschaftsbündnis wurde eine Wertegemeinschaft und eine europapolitische Instanz, auch für den Bereich der Gleichstellung der Geschlechter.
Bedeutsam für diese Entwicklung war der Fall der belgischen Stewardess Gabrielle Defrenne. Sie klagte vor dem Europäischen Gerichtshof, weil sie bei gleicher Arbeit weniger verdiente als ihre männlichen Kollegen. Zudem sahen die damaligen Regelungen vor, dass weibliche Flugbegleiter*innen bereits mit 40 Jahren in Rente gehen sollten, was ihre Rentenansprüche einschränkte.
Am 8. April 1976 entschied der Europäische Gerichtshof, dass nicht nur Staaten, sondern auch private Unternehmen zur Gleichbehandlung verpflichtet sind. Zwei Jahre später, am 15. Juni 1978, urteilte das Gericht über die geschlechtsbezogene Benachteiligung bei der Altersgrenze. Auch wenn Defrenne in diesem Punkt noch keinen rechtlichen Erfolg hatte, verurteilte das Gericht diese geschlechtsbezogene Diskriminierung.
Der Fall gilt als Meilenstein: Er verankerte das Prinzip „Gleiches Entgelt für gleiche Arbeit“ klar im Gemeinschaftsrecht und zeigt, dass auch Einzelpersonen über nationale Gerichte und den EuGH (Europäischer Gerichtshof) ihre Rechte durchsetzen können.
Gefährdung durch den politischen Backlash
Rechts-konservative Kräfte gewinnen in Deutschland und Europa an Einfluss. In Ungarn, Tschechien und Italien regieren sie bereits. In Deutschland steigen die Umfragewerte der AfD, die jedoch weiterhin nicht an der Bundesregierung beteiligt ist.
Diese Entwicklung wirkt sich zunehmend auf EU-Debatten aus: Themen wie Abtreibungsrecht, LGBTQIA+-Rechte oder Schutzmechanismen gegen geschlechtsspezifische Gewalt werden nicht mehr nur national, sondern auch auf europäischer Ebene diskutiert. Länder wie Polen und Ungarn bringen Rückschritte regelmäßig in die EU-Diskussion ein.
Die EU kann reagieren: Die Kommission überwacht die Einhaltung der Verträge und kann bei Verstößen klagen. EU-Verfahren dienen so als Schutzschild für liberale Werte und haben oft auch wirtschaftliche und reputationsbezogene Auswirkungen – selbst nicht erfolgreiche Verfahren können den politischen Diskurs beeinflussen, Investitionsklima und internationale Wahrnehmung eines Landes verändern.
Beudeutung des EU-Gleichstellungsrechts für jede*n einzelne*n von uns
Das EU-Gleichstellungsrecht bildet die Grundlage und den Maßstab für unsere nationale Gesetzgebung. Besonders wichtig ist dabei die Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland, denn Verstöße gegen ihre Vorgaben können nicht nur national, sondern auch auf EU-Ebene verfolgt werden. Dies zeigt, wie eng nationale Gesetzgebung und europäische Werte miteinander verknüpft sind.
Gemeinschaften wie die Europäische Union – und die darin verankerten demokratischen und gleichstellungsbezogenen Werte – sind nicht selbstverständlich. Sie stehen kontinuierlich unter Druck, sei es durch politische Backlashes, rückläufige Rechte oder gesellschaftliche Debatten. Deshalb ist es entscheidend, informiert zu bleiben, seine Rechte zu kennen und aktiv für sie einzutreten – sowohl auf persönlicher Ebene als auch durch zivilgesellschaftliches Engagement.
Text: Wynona Peukert
