Workshop bei Miteinander reden in Istanbul

Bild: Paula Panke

Interkulturelles Treffen: Miteinander reden

Wir leben in einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Spaltungen. Sie zerreißen Familien und Freundeskreise, sorgen für Hass in den Gesellschaften und führen im schlimmsten Fall zu Übergriffen. Das interkulturelle Projekt „Miteinander Reden“ von OWEN e.V. wollte dem etwas entgegensetzen und mehr Verständigung schaffen. Es ging darum gesellschaftliche Spaltungen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Das Frauenzentrum Paula Panke e.V. beteiligte sich gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Polen und Russland an dem Projekt.

In allen drei Ländern fanden Workshops statt, die Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts und gesellschaftlichen Hintergrunds zusammenbrachten. Aus den Workshops entwickelten sich lokale Initiativen.

Abschließend trafen sich die Vertreter*innen aller teilnehmenden Organisationen und Initiativen Anfang Oktober 2021 am Marmarameer in Istanbul/Türkei zu einem Erfahrungsaustausch.

Istanbul - Marmara Meer
Bild: Paula Panke
Blick aufs Marmarameer bei Istanbul
Bild: Paula Panke
Workshop bei Miteinander reden in Istanbul
Bild: Paula Panke

Gesellschaftliche Spaltung mit Dialog überwinden

Andrea und Inga von OWEN e.V.
Bild: Paula Panke

Trotz der Vielfalt an Themen sowie der Unterschiede der Teilnehmenden in Sprache, Kultur, Alter und Geschlecht gab es eine entscheidende Gemeinsamkeit: Alle wollen bestehende Machtverhältnisse nicht nur hinterfragen, sondern auch verändern. Ein verbindendes Moment war die Unzufriedenheit mit den Spaltungen in den Gesellschaften. Eine Möglichkeit sie zu überwinden ist der Dialog. Das wurde in diesem Projekt mit Unterstützung der Projektkoordinatorinnen von OWEN e.V. in lokalen Initiativen als biografische Methode ausprobiert wurde.

Dialog und biografische Methode

Die Erfahrung aus vielen Projekten von OWEN e.V. in Konfliktregionen zeigt, dass Menschen über den Austausch persönlicher Erfahrungen gut miteinander ins Gespräch kommen, weniger bis gar nicht dagegen durch den Austausch zu Konfliktthemen oder durch theoretisierende Monologe. Der Austausch von Erfahrungen unterliegt dabei einem einfachen Rahmen, an den sich alle Teilnehmenden des Dialogs halten. Das war auch während der Gesprächsrunden in Istanbul so. Die Vorgaben lauten:

  • der*m Sprechenden aufmerksam zuhören,
  • sie*ihn ausreden lassen,
  • das Gesagte nicht kommentieren oder einordnen, sondern einfach stehen lassen,
  • nur Fragen zum Verständnis stellen

Diese Form der Gespräche hatten die Teilnehmenden bereits in den lokalen Workshops erprobt.  Die Wirkung ist überzeugend. Durch das Zuhören und das Sich-auf-den-anderen-Einlassen ergeben sich neue Perspektiven. Das Verständnis für die sprechende Person wächst. Diese Gesprächsräume bieten das Potential, abgeschlossene Räume einheitlicher Meinungen – sogenannte Blasen – zu verlassen und Spaltungen in den Gesellschaften zu überwinden. Im Prinzip sind es Nachbarschaftsgespräche, wie Menschen sie früher auf der Bank vor dem Haus oder bei gemeinsamer Handarbeit geführt haben. Durch die gesellschaftliche Vereinzelung, zunehmende Digitalisierung und Isolation in der Pandemie finden diese Gespräche kaum noch statt. Menschen bewegen sich immer mehr in sehr ähnlichen Meinungsräumen, in denen andere Ansichten kaum noch toleriert werden. Außerhalb wird der Ton schnell rauer bis hin zu Hate Speech. Wir müssen diesen Dialog in unseren Gesellschaften wieder neu lernen. 

Aktivistinnen zwischen Motivation und Angst

Ob die strengen Abtreibungsgesetze in Polen oder die reale Bedrohung in Russland nach dem Agentengesetz (Link zu einem Informationsartikel bei bpb.de) wegen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten verhaftet zu werden – die Verhältnisse und Umstände von denen die Teilnehmer*innen aus diesen Ländern erzählten, machen betroffen.

Trotz der massiven Bedrohungen in ihren Ländern bleiben sie unerschrocken und machen weiter. „Das sind mehr Münzen für das Sparschwein“, sagte eine russische Aktivistin dazu. Sie meinte damit: je mehr Druck es in einer Gesellschaft gibt, desto vielfältiger werden die Lösungen sein.

Für sie alle ist es selbstverständlich, sich auch unter schwierigen Bedingungen für die Rechte anderer Menschen einzusetzen – für Menschen mit BeHinderung, für von Gewalt betroffene Frauen, für das Recht auf Abtreibung…. Ein wichtiges Mittel ist dabei Humor, auch um jüngere Menschen zu erreichen. Das fiel besonders bei der bildhaften Sprache der russischen Teilnehmer*innen auf. Diese sprachlichen Besonderheiten konnten wir durch den Luxus von drei Simultanübersetzerinnen vor Ort intensiv auskosten.

Vegetarische Gespräche

Eine Teilnehmerin redet zum Beispiel von ‚vegetarischen Gesprächen‘. Wir wussten nicht, was sie damit meint. Ihr ging es nicht um die Ernährungsweise, sondern um die Art des Umgangs miteinander. Obwohl wir mit verschiedenen Meinungen und Hintergründen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen nach Istanbul kamen, war das Miteinander sehr freundlich, offen und vertrauensvoll. Wir gingen nicht wie die Raubtiere aufeinander los, sondern im Gegenteil – wir unterstützen uns und hörten einander gespannt zu.

Erfahrungen teilen ist eine Form des Widerstands

Das persönliche Treffen in Istanbul empfanden alle als eine große Bereicherung. Denn der einzige Weg, um die Wahrheit zu erfahren, sind persönliche Gespräche. Von sich zu erzählen, die eigene Erfahrung zu teilen, ist ein Stück Freiheit und eine Form des Widerstands. Es ist eine Form der Selbstermächtigung. Wichtig ist dabei das Erleben, dass es Menschen gibt, die zuhören. Einander zuhören ist berührend und verbindend. Nur so ist es möglich, problematische Themen überhaupt sichtbar zu machen!

Workshop bei Miteinander reden in Istanbul
Bild: Paula Panke

Demokratische Strukturen müssen verteidigt werden

Eine Teilnehmerin aus Polen berichtete, dass die massive Verschärfung der Abtreibungsgesetze für die polnischen Frauen sehr überraschend kam. Sie hatten nicht damit gerechnet, ab diesem Tage immer wieder auf die Straße gehen zu müssen, um ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung zu verteidigen.

Es waren Berichte aus den anderen Ländern wie diesen, die uns mit einem unbehaglichen Gefühl zurückließen. Müssen wir in Deutschland auch mit solch einschneidenden und plötzlichen Ereignissen rechnen? Dafür interessierten sich die polnischen und russischen Teilnehmer*innen sehr. Wie ist die Situation in Deutschland? Womit habt ihr zu kämpfen? Sie waren überrascht zu hören, dass auch wir mit Rechtspopulismus, LGBTQIA+ – und Frauenfeindlichkeit zu kämpfen haben.

Demokratische Strukturen müssen immer wieder neu verteidigt werden. Ein guter Zustand kommt nicht von allen und ist er da, bleibt er nicht automatisch. Daher ist es wichtig, in unseren Gesellschaften auf eine Dialogkultur zu achten und Dialoge zwischen verschiedenen Menschen zu fördern.

Spaltungen in den Gesellschaften werden aus unterschiedlichen Gründen gezielt vorangetrieben. Einseitige Sichtweisen, ja Unwahrheiten werden verbreitet, um zu polarisieren und Menschen gegeneinander aufzuhetzen. In Russland und Polen ist es der Staat selbst, in Deutschland sind es einzelne Politiker*innen und Lobbygruppen. Das Internet macht derartige Propaganda allgegenwärtig.

Schon kleine Aktionen können viel bewirken

Das Treffen hat uns gezeigt, dass der internationale Austausch und die Zusammenarbeit in schwierigen Zeiten nicht nur möglich, sondern auch notwendig und vor allem bereichernd ist. Er bietet die Möglichkeit andere Perspektiven und Situationen kennenzulernen und die eigenen Sichtweisen besser einordnen zu können.

Von russischen und polnischen Aktivistinnen haben wir gelernt: schon kleine Aktionen können viel bewirken.

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